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Viel schwerer als Blei

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Bitte

keine fette Beute

Voller Tatendrang

Obwohl der gestrige Abend sehr lang und altes Handwerk in lebhaften und anregenden Erzählungen wieder lebendig wurde, sind wir alle bereits wieder früh auf den Beinen und voller Tatendrang. Noch im Dunkeln starten wir zu viert – Rainer, Angelika, Hans und ich – Richtung Darmstadt zur Schriftgießerei. Drinnen surren bereits die Maschinen als draußen der Tag langsam erwacht. 


Präzise Schrifthöhe für jedes Land

Kaum sind wir alle eingetroffen, bereitet Rainer eine weitere Fräsmaschine vor, an der heute die gestrig gegossenen Schriftfiguren der »Sabon Kursiv«  von der rohen Lagerhöhe auf die gewünschte Schrifthöhe gefräst werden sollen. Bei dieser Bestellung geht es um die Normhöhe in Deutschland von 23,57 mm.
Der Fräskopf an der Maschine ist ein Stufenfräser, der in vier nacheinander folgenden Schritten das Blei auf die gewünschte Höhe kürzt. Hier ist präzises Arbeiten vonnöten sowie ein sorgfältiges Reinigen nach jedem Arbeitsschritt, denn es kommt auf den hundertstel Millimeter an. Wird zu viel gefräst, ist die Arbeit der vorherigen Tage umsonst.


Lauter neue Fachwörter

Früher gab es in einer Schriftgießerei Fachleute für die einzelnen Arbeitsschritte, u. a. Fertigmacher, Höhenfräser, Teilerin und Brettkontrolleur. Die Teilerin z. B. hebt die frische Schrift aus den Holzwinkelhaken von den »Reffs« und »schmeißt sie in das Brett«. Der »Brettkontolleur« macht einen Probeabzug mit Blaupause zur Qualitätsprüfung. Abschließend verschnürt die Teilerin die

frischen Schriften und verpackt diese dann gut gepolstert in einem kräftigen Papier - lauter neue Fachwörter, die nun mein Wortschatz erweitern.


Nicht geschmissen, sondern sorgfältig verarbeitet

Anschließend wird das Paket gewogen, denn Schrift wird nicht nur nach Aufwand, sondern hauptsächlich nach Gewicht verkauft. Erstaunlicherweise haben sich die Schriftenpreise über die Jahrzehnte, wie Rainer erzählt, nicht viel verändert.
Neben anderen Arbeiten ist Angelika heute als Teilerin zuständig und verschnürt, packt und wiegt die frischen Schriften. Sie ist inzwischen auch vom Fach, aber keine Schriftgießerin. Heute gibt es europaweit fast keine Fachkollegen mehr, mit denen sich Rainer austauschen könnte.


Große, Kleine und ein professioneller Austausch

Hans möchte das Gebäude kennenlernen und Angelika übernimmt gern die Führung. Ich schließe mich freudig an, ein weiteres Mal das riesige Museum zu bestaunen. Wir streifen durch den Matern- und Probenkeller, die Setzerei und die Drucksäle sowie den unteren Bereich, in dem eine alte Zeitungsrotationsmaschine aufgebaut ist, so groß, dass ich in ihr stehen kann.

Von den Maschinen und all der Technik rund um das Gießen der Schrift ist Hans begeistert. Im intensiven Gespräch tauscht er sich rege mit Rainer über das Schriftsetzen und -gießen aus, beide aus der Sicht ihrer jeweiligen Profession. Sie eint eine lebenslange Arbeit und die Leidenschaft für Schrift.


Es wird höchste Zeit jetzt noch Schriften zu bestellen

Inzwischen sind die letzten Schriftpakete fertig gestellt und in die Holzkästen zum Abtransport gelegt. Es ist Feierabend und wir fahren alle zurück nach Frankfurt. Während der Fahrt ruft ein Schrotthändler an, er weiß davon, dass die Produktion zum Ende des Jahres eingestellt werden soll und wittert schon fette Beute. Wie anmaßend in einer Schrift, die in Präzision hergestellt wurde und noch nicht einmal mit Druckfarbe in Berührung gekommen ist, nur den Metallwert zu sehen. Es fühlt sich an, als würden bereits die ersten Aasgeier kreisen, um alles einzuschmelzen und mir wird das Herz schwer – bleiern schwer.


Höchste Zeit

die Schriftbestände aufzufüllen

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Kommentare: 2
  • #1

    Achim (Donnerstag, 21 Oktober 2021 10:36)

    Oh Jana, was für eine Bereicherung für Dich, freue mich auf Deinen Bericht und sage den Aaaaageiern, sie mögen sich verp . . . ieseln. Ist bei den Schriften die Reporter dabei?
    Nette Grüße aus der L42 und bis bald, Monsieur Gütenbersch freut sich.

  • #2

    Jana auf TypoWalz (Donnerstag, 21 Oktober 2021 21:59)

    Lieber Achim oder auch »Monsieur Gütenbersch«,
    heute habe ich mich erkundigt, die »Reporter« ist nicht von der Firma Stempel AG entwickelt worden, daher hat Rainer diese nicht. Aber sie ist in Leipzig im Druckmuseum und dort werde ich auf meiner nächsten Station einmal anfragen.
    In diesem Sinne, lieber Kollege, bleiben wir neugierig und ☞ Gott grüß die Kunst