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Schwer reich

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Blei ist schwer

aber noch sehr viel mehr

Solange sie noch da sind

In der Schriftgießerei Rainer Gerstenberg im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt gewinne ich diese Woche einen Einblick in die gesamte Produktion der beweglichen Lettern, deren Herstellung seit Gutenbergs Erfindung über die Jahrhunderte immer ausgeklügelter und verfeinert wurde. Das Grundprinzip ist bis in die Gegenwart geblieben. Rainers Gießerei ist die einzige noch tätige und er erhält Gießaufträge aus der ganzen Welt. Solange es noch Fachleute für dieses Handwerk gibt, solange können Bleilettern gegossen und alte Druckereien beliefert werden.

Was folgt, wenn dieses Wissen verschwindet?


Ein historischer Rückblick

Vor der Erfindung des Buchdrucks waren handgeschriebene Bücher nur einem erlesenen Kreis wie Klöstern und Fürstentümern zugänglich. Gutenbergs Erfindung des Druckens mit beweglichen Lettern Mitte des 15. Jahrhunderts war ein historischer Meilenstein und revolutionierte die schriftliche Kommunikation und damit die Bildungsmöglichkeiten aller. Den Kern seiner Entwicklung bildeten die Gießformen für einzelne Buchstaben, in deren Folge Schriftgießereien entstanden.


Ungefähr 6 cm hohe Stahlstäbe wurden geglüht, um sie gefügig zu machen, sodass mit einer Graviernadel der Stempelschneider den entsprechenden Buchstaben als seitenverkehrtes Bild auf die Kopffläche ritzen konnte. Mit Stichelwerkzeug erfolgte dann das Ausstechen und mit Feilen die Nachbearbeitung des Buchstabens, bis dieser als Stempel hervortrat. Durch wiederholtes Erhitzen und Auskühlen erhielt er seine erforderliche Härte.


Jetzt konnte er in die Oberfläche eines weichen Metalls wie Kupfer oder Messing geschlagen bzw. mit einer Hebelpresse getrieben werden. Nach dem abschließenden Justieren waren die rechteckigen Matrizen oder Matern - nun wieder seitenrichtig - fertig und bereit zum Einsetzen in das Handgießinstrument, welches aus zwei gegenläufigen Stahlwinkeln mit einem hölzernen Schutzmantel besteht.


In die Öffnung des Gießgerätes, das die Matrize umschließt, füllte der Schriftgießer vorsichtig mit einem Gießlöffel die heiße Bleilegierung. Nach dem Erkalten des eingeschlossenen Metalls konnte die Letter mit dem nun wieder seitenverkehrten Relief des Schriftbildes herausgelöst werden. Diese Technik von Gutenberg wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts genutzt und in dieser Zeit immer weiter entwickelt, so die Fräsmaschine für die Fertigung der Matrizen und die Komplettgießmaschine für die Letternherstellung.


Auf diesen alten Schautafeln der Gewerbeschule III Karlsruhe wurden einst zu Lehrzwecken die Metalle in ihrer Verwendung sowie auch der gesamte Werdegang zur Entstehung der Lettern vom Entwurf bis zur Druckfertigung dargestellt. Im Handbuch »Praktische Winke« der Stempel AG sind die bis heute gültigen Schrifthöhen nachzulesen. Diese werden immer in Punkt und Millimeter angegeben, wie beispielsweise die »Deutsche Normalhöhe« von 62 2/3 Punkt beziehungsweise in 23,567 mm.


Aus Alt mach endlos neu

Für den heutigen Gießauftrag gießt Rainer Buchstaben der »Ehmcke-Mediaeval« und benötigt zudem eine einzelne Mater aus Satz der »Ehmcke-Fraktur«. Alle Schriften haben neben ihrem Namen eine individuelle Nummer. Die Ehmcke Fraktur in 12 Punkt wird unter »2839« gelistet. Ich begleite Angelika in das Untergeschoss und wir machen uns auf die Suche in dem reichen Fundus des Matern-Magazins. Nach einer Weile haben wir sie gefunden.


Ein historisches System funktioniert noch heute

Rainer braucht nur das doppelte Trennzeichen aus der Fraktur. Wir öffnen das Päckchen und finden die kleine Mater. Da der Kasten mit den Gussproben im Moment nicht zugänglich ist, versuche ich den umgekehrten Weg und nehme die »Bibel« zur Hand. Dort entdecke ich im Verzeichnis tatsächlich den Eintrag zu der Schriftprobe und finde das gedruckte Trennzeichen. Stolz zeige ich es Rainer und er kann daraus den genauen Stand zur Grundlinie ermitteln.


Überraschend bekannt

Ich bin fasziniert, dass eine rund 100 Jahre alte Schrift auch heute noch mithilfe der Original-Matern nachgegossen werden kann. Auf der Schriftprobenseite entdecke ich in der Fußzeile die Angabe der Listennummer »2839«.
Es kommen zwei Buchdrucker, der Däne Jens Jørgen Hansen und sein Frankfurter Kollege Marcus Bonszkowski zu Besuch, die sich das lebendige Handwerk auch einmal in Ruhe ansehen wollen. Gern stelle ich mich vor und bin überrascht, dass sie bereits von mir und meiner TypoWalz gehört haben.


Setzen, schnüren und verpacken

Nun wird es allmählich Zeit, meinen Blei-Einkauf zu verpacken. Rainer fräst noch ein paar Figuren von der allgemeinen Lagerhöhe 24,85 mm auf die hiesige Schrifthöhe von 23,57 mm. 

Angelika sortiert die frisch glänzenden Lettern routiniert der Größe nach, füllt die Lücken mit kleinen Pappen auf und schnürt sicher die Bleipäckchen fest. Auf den Packtisch geschoben werden sie dann systematisch in gekonnter Weise reisefertig verpackt.


Eine Woche wiegt schwer

Eine intensive Arbeitswoche und sehr schöne Zeit mit und bei der Familie Gerstenberg geht zu Ende. Bleischwer bepackt nehme ich Abschied. Die gemeinsame Aufnahme wird mir eine schöne Erinnerung sein. Auf der Rückfahrt hält Rainer am Ortsschild an, damit Angelika mich dort fotografieren kann, denn auch dieses Foto darf ja nicht fehlen.


Danke Rainer und Angelika

und Gott grüß die Kunst

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Kommentare: 6
  • #1

    Volker (Samstag, 23 Oktober 2021 21:06)

    Ich beneide dich immer mehr, je länger ich deinen tollen Berichten folge. Ich gönne es dir aber von Herzen. Ich wünsche dir weiterhin viel Energie und Freude auf deiner Walz. Mit einem herzlichen Gott grüß die Kunst: Volker Beilborn

  • #2

    Gert Laufenberg (Sonntag, 24 Oktober 2021 13:06)

    Moin Jana,
    ich besitze eine "Stempel-Bibel "
    in einem guten Zustand, die ich gegen Gebot abgeben möchte.
    Im Internet werden schlechtere Exemplare für über 4000 Euro angeboten. Das halte ich für stark überzogen.
    Hast Du bei Deinen Druckerei-Besuchen jemanden mit Interesse daran getroffen?
    Für einen Kontakt bin ich dankbar.

    Viel Spaß und Erfolg bei der weiteren Typowalz.
    wünschst Gert

    gla@wtnet.de

  • #3

    Hermann Iding (Montag, 25 Oktober 2021 09:39)

    Liebe Frau Madle-Elmerhaus,
    danke für Ihre Walzberichte, ich empfinde sie als große Bereicherung, auch um Wissen, dass droht verloren zu gehen, im Bewußtsein zu erhalten.
    Ich finde das klasse, dass Sie sich die Mühe machen und lese das wirkich gerne: danke!
    Schönen Gruß
    Hermann Iding

  • #4

    Jana auf TypoWalz (Montag, 25 Oktober 2021 10:50)

    Lieber Volker,
    vielen Dank für deine netten Worte und guten Wünsche. Schön, dass du mich begleitest.
    und ☞ Gott grüß die Kunst

  • #5

    Jana auf TypoWalz (Montag, 25 Oktober 2021 11:39)

    Lieber Gert,
    oh, welch ein Schatz du hast. Inzwischen habe ich den gelesen, dass es eine der umfangreichsten Hauptproben, die je von einer Schriftgießerei herausgegeben worden ist. Sie stammt aus dem Jahre 1927 und wird – wie bereits genannt – unter Fachleuten oft als »Stempel-Bibel« bezeichnet.
    Gerne höre ich mich für dich um, da meine Mittel nicht reichen.
    Vielen Dank und ☞ Gott grüß die Kunst

  • #6

    Jana auf TypoWalz (Montag, 25 Oktober 2021 11:42)

    Lieber Hermann Iding,
    wie gern lese ich Ihre Zeilen und freue mich, dass meine Wander-Berichte solch einen Anklang finden. Ich werden weiter reisen und weiter berichten.
    Vielen Dank für die Begleitung und ☞ Gott grüß die Kunst